Besucher können Jochen Gerz´Leben in Duisburg nachvollziehen, eine Retrospektive liefert er trotzdem nicht.
Der nachfolgende Ausstellungsbericht entstand im Auftrag der Kunstmarktzeitung „Kunst und Auktionen“. Veröffentlicht wurde er in leicht veränderter Fassung am 5. April 2019 im ZEITVERLAG Gerd Bucerius GmbH & Co KG, Hamburg.
Wie wundervoll widersinnig ist doch dieser Titel, mit dem das Lehmbruck Museum auf Plakaten für seine aktuelle Schau wirbt: „Einladung Jochen Gerz: The Walk – Keine Retrospektive“! Bei einem Künstler, der mit Sprache spielt, muss eben mit allem gerechnet werden.
„Ich komme ins Museum“, hatte Gerz (*1940) der Direktorin im Vorfeld gesagt, „Aber es wird nichts geben“. Aus dieser Haltung entstand dann allerdings doch etwas. Denn Jochen Gerz hat dem Duisburger Museum einen ausführlichen Essay mit dem Titel „The Walk“ überlassen. Der enthält einen Rückblick auf die Jahrzehnte seines Lebensweges mit eingewobenen Verweisen auf Stationen seines künstlerischen Schaffens; also eine Retrospektive im Sinne der lateinischen Wortbedeutung. Dieser Text wurde in gut lesbaren, roten Buchstaben von innen spiegelverkehrt auf die gläserne Außenfassade geklebt. Pro Scheibe erwartet uns eine Spalte Blocktext. So ist das künstlerische Programm des in Irland lebenden Konzeptkünstlers zwar im Museum gelandet, aber keiner muss dafür hinein. Jeder, der an dem Gebäude vorbei kommt, kann es sehen – zu jeder Zeit und ohne Eintritt zu zahlen.
Jochen Gerz denkt in diesem Essay über etwas nach, das ihn seit langem beschäftigt. Es geht um die Rolle und den Status des Künstlers in der westlichen Gesellschaft und mündet in einem Manifest für die öffentliche Autorschaft. So bezeichnet Gerz sein Kunstschaffen im öffentlichen Raum. Zum Ausgangspunkt für derart grundsätzliche Überlegungen dient ihm die eigene Erfahrung. Fragen über Fragen reihen sich in dem Text. Um diesen kreisenden Gedanken eine sinnvolle Ordnung zu geben, schreitet Jochen Gerz die acht Jahrzehnte seines Lebens chronologisch ab.
Insgesamt liegen hundert Meter Glasfassade vor uns. Rund eine Stunde braucht es für die Lektüre. Ob er nicht etwas zu viel verlange vom Publikum, wird der Künstler gefragt. „Die Deutschen laufen weniger, sie lesen weniger“, bekommen wir als Antwort zu hören. „Passt auf Eure Kreativität auf“, mahnt er, „Ihr wart alle mal Kinder“. Was dieser Appell bedeutet, wird einem klar, wenn man das Gebäude lesend umrundet hat. Doch der Reihe nach…
In sieben Meter Höhe stehen die ersten Worte. Wer nicht den Kopf in den Nacken legen will, um zum Werk von Gerz wie zu Michelangelos überlebensgroßem David empor zu schauen, schreitet eine Rampe hoch auf das Baugerüst. Es umgibt das Museumsgebäude für die Zeit des Projektes mit der Aura von etwas Unfertigem. Von dort liest man: „ABC Radio Sydney 1984: Ich hatte eine glückliche Kindheit. Darf man das sagen?“. Zu schwarz unterlegten Begriffen existieren Fußnoten. Insgesamt sind es 184. Die finden sich in einem Heftchen wieder, welches der Rheinischen Post beilag. Daraus erfahren wir: „1 glückliche Kindheit 1940: Jochen Gerz wird in Berlin geboren“. Auf diesen folgt schon der nächste Faktenschnipsel.
In ihrem Vorwort zu dem Heftchen betitelt Museumsdirektorin Dr. Söke Dinkla diese Ansammlung von Miniaturen als „Gebrauchsanleitung für das Kunstwerk“. Es liefert neben Wort auch winzige Bilder, teils aus dem Besitz des Künstlers, teils aus öffentlichen Quellen. Wobei in der Hauptsache zwei über das Web kostenfrei nutzbare Enzyklopädien genutzt wurden: wikipedia als gemeinnütziges Projekt, bei dem jeder zum Autor werden kann; im Kontrast dazu die Encyclopædia Britannica, als Produkt der Aufklärung von einer Wissenselite erstellt. Anhand dieser Beigaben wird die Aufgabe deutlich: Um der von Gerz gezogenen Erkundungsspur mit Gewinn folgen zu können, braucht das Publikum nicht nur die Kenntnis deutscher Sprache plus Durchhaltevermögen und die Bereitschaft zur Entschleunigung auf ein selbstbestimmtes intellektuelles Tempo sondern auch Wissen zur Geschichte westlicher Kunst, Kultur und Politik. Dahinter steht der Apell: Beschäftigt Euch mit Eurer Geschichte!
1944 zerstörte eine Bombe das Zuhause der Familie Gerz. Sie wurde aus der Reichshauptstadt in ein Dorf im Rheinland evakuiert. Dort wächst Jochen Gerz auf. Obwohl er die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend sowie das Studium im Ruhrgebiet verbrachte, sieht sich Gerz im Rückblick als Zugereister. Und er ruft andere Menschen dazu auf, unter dem Arbeitstitel „My Walk“ ihre Kriegserfahrungen zu erzählen. Diese werden in Kooperation mit der größten regionalen Tageszeitung des Ruhrgebiets veröffentlicht. Kommerzielle Medien in den kreativen Prozess mit einzubeziehen, auch das zählt zur komplexen Arbeitsweise von Jochen Gerz. Zu seiner Verabredung mit dem Lehmbruck Museum gehört überdies die Veranstaltungsreihe „Mitreden“. Während der Laufzeit der Ausstellung lädt das Museum jeden Samstag für anderthalb Stunden Besucher zum offenen Austausch mit Geflüchteten.
Auf den letzten Metern des an die Museumsfassade geklebten Essays kommen wir lesend in der Gegenwart an. 2010 lautet ihre Überschrift. Dabei geht es um „Öffentliche Autorschaft“. Im englischen Originaltext fehlt dieser Abschnitt. Aber die Webseite von Jochen Gerz hält auch eine deutsche Version zum Download bereit. Die gibt den Museumstext vollständig wieder, inklusive der Beigaben aus dem Heftchen. Warum er mit 2010 ende, fragte einer den Künstler während der Pressekonferenz. Seine Antwort fiel knapp aus: „Sind Sie Fan von der Zukunft? Ich nicht.“
Die Ausstellung "The Walk - keine Retrospektive" läuft vom 23. September 2018 bis 5. Mai 2019 im Lehmbruck Museum Duisburg.
Links
Essay englische Originalversion: https://www.jochengerz.eu/contemporaneities/1940
Essay deutsche Übersetzung: https://www.jochengerz.eu/info/contemporaneities-deutsch