Kommentar zur documenta (13)
Während der documenta wird Kassel zur Bühne für zeitgenössische Kunst. Vier Tage spielte ich dort mit – in der Rolle einer Reporterin. Dieses Auf-der-Bühne-Sein erzeuge eine lebhafte und lebendige Zeit des Hier und Jetzt, orakelte Carolyn Christov-Bakargiev. Damit sollte sie Recht behalten.
Ich flanierte zwischen künstlerischen Gedanken und Visionen, als wären es meine eigenen. In mir dröhnte das globalisierte Hier und Jetzt: Claire Pentecosts Soil-erg statt Petro-Dollar! Respektiert Tiere und Pflanzen als ebenbürtige Wesen! Kampf dem Gen-Food und dem Konsumterror! Widersetzt Euch den Weltkonzernen! Nehmt die Erdatmosphäre auf als UNESCO-Welterbe! Und Partei für die Unterdrückten! Diese Position, erklärt die Leiterin der documenta (13) im Katalog, sei ein Geisteszustand. Jawohl!
Mit brennenden Augen nach rund dreißig Stunden Kunstschau notierte ich „Burnout-Syndrom, unser Volksleiden Nummer Eins“ an den Rand ihrer Ausführungen im Kapitel IV „plaziert und postiert sein“. Denn in Kassel äußert sich das Problem westlicher Lebensbewältigung in der Frage: „Wie schaffe ich, alles zu sehen?“
Allein über fünfzig Kunststandorte wären in der Karlsaue aufzusuchen, rund vierzig verteilen sich über die Innenstadt, darunter zehn, die als Hauptorte aufgeführt werden. Wo anfangen? Wo aufhören? Jeder hat darauf eine andere Antwort. Besonders lang fällt die Liste aus, befrage ich Bewohner Kassels: Die Mappa von Alighiero Boetti im Fridericianum soll ich sehen, den Bienenkopf von Pierre Huyghe und die Baumbronze mit Stein von Guiseppe Penone, jeweils an entgegengesetzten Enden der Karlsaue – und, und, und…
Ach ja, alle schwärmen von der Rauminstallation von William Kentridge. Ist mir ein Rätsel, wieso der als Star der Schau gilt! Geht denn keiner mehr ins Theater? Allein mit seiner Arbeit „The Refusal of Time“ verbrauchte ich eine halbe Stunde, dazu kamen Filme von Javier Tellez, Jessica Warboys und jugendgefährdende Videoarbeiten von Tejal Shah. Ich war wohl den halben Tag mit Filmgucken beschäftigt.
Aber klar, wer in Kassel wohnt, hat hundert Tage Zeit! Jetzt ist erst Halbzeit. Zehntausend Dauerkarten wurden verkauft. das sei ein neuer Rekord, jubelt die Stadt. Das ist Burnout-Prävention, kontere ich, und gehe jede Wette ein, wir Kieler würden mehr schaffen. Denn Kassel frisst sich satt, alle fünf Jahre, während die wahre Provinz nach Teilhabe hungert.
Paris, New York, London, Bombay, Mexico City, São Paolo, Neu Delhi, Bangkok, Singapur – dies ist ein Auszug aus der Liste von Megalopolen, die die Künstler von d(13) als ihr Lebenszentrum angeben. Einige, wie der in Florida geborene Aman Mojadidi, zählen mehrere Standorte gleichzeitig auf. Aktuell will er in Kabul, Dubai und Paris leben. Emily Jacir nennt gleich den gesamten Mittelmeerraum und Maria Thereza Alves „Europa“, was zum dehnbaren Begriff geworden ist. Tarek Atoui lebt sogar „nomadisch“ und die in Kairo geborene Anna Boghiguian „in dieser Welt“. Wie cool ist das denn?
Dazu passt die Idee von Carolyn Christov-Bakargiev, nicht nur Kassel allein während der documenta zu bespielen, sondern auch Kabul, Kairo und Banff in Kanada. Neben „Auf der Bühne“ gäbe es nämlich noch „Unter Belagerung“, „Im Zustand der Hoffnung oder des Optimismus“ und „Auf dem Rückzug“ als weitere Positionen. Die zusätzlichen Schauplätze würden diesen Zuständen entsprechen, in Teilen oder – wie bei Kabul mit Bamiyan – in Summe.
Auch Arnold Bode hat 1955 das von Faschismus und Krieg gezeichnete Deutschland mit Kunst vernetzen wollen, jedoch kaum über geopolitische Kategorien. Auf seiner ersten documenta waren 145 Künstler aus Europa und den USA vertreten, deren „Leistung des Rad der Kunstgeschichte entschieden vorangetrieben haben oder noch vorantreiben“, resümierte damals ein Kollege. Zwei Stunden Zeit sollten sich Besucher für den Rundgang nehmen. Dabei konnten sie Gemälde Giorgio Morandis sehen, Bilder „von bezwingender Welthaltigkeit“, so urteilte ein zeitgenössischer Kritiker.
Carolyn Christov-Bakargiev hat sie wiederentdeckt und in ihr „Brain“ integriert. Dort, für die Rotunde des Fridericianums, lohnt das Anstehen. Nehmen Sie sich dafür alle Zeit der Welt. Versenken Sie sich in den Flussstein und die daneben liegende Kopie aus Carrara-Marmor von Giuseppe Penone. Was Kunst ist, wissen Sie danach. Mit etwas Glück begegnen Sie einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Kunst. Ich vernahm: „Lebt doch!“
Ausstellungsbericht für die Fachzeitung „Kunst und Auktionen“, erschienen am 17. August 2012 im ZEITkunstverlag, Berlin.