Erstellt Anfang Mai im Auftrag der Redaktion „woman in the city“, Verlag magz medien, Laboe. Abgedruckt in Ausgabe Nr 3/2019.
In Fragen der Lebensführung wird heute vielfach nach Orientierung gesucht. Dr. Astrid von der Lühe steht für eine Zunft, die sich darüber professionell Gedanken macht. Seit bald zwanzig Jahren arbeitet sie am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Neben ihrer Tätigkeit als Geschäftsführende Mitarbeiterin trägt die Dozentin insbesondere Sorge für die Ausbildung künftiger Lehrkräfte. Ihr Herz hängt daran – und an philosophischen Diskursen über Sinnlichkeit, Gefühle und Geschmack.
Philosophie sei kein Kompass für alle Lebenslagen, stellt Astrid von der Lühe klar. Aber wer sich den Fragen nach Grundlagen und Grenzen menschlicher Erkenntnis gestellt habe, gehe kritischer und respektvoller in gesellschaftliche Diskussionen. Das wird deutlich, als unser Gespräch die Künstliche Intelligenz streift. Sind Maschinen bald klüger als wir? Die promovierte Philosophin ist da skeptisch. „Künstliche Intelligenz beruht auf Algorithmen, menschliche Intelligenz hingegen wurzelt in der sinnlichen Empfänglichkeit. Beim Schmecken wie auch beim Riechen oder Hören, Fühlen oder Sehen sammeln Menschen Erfahrungen, die über die Aufnahme von Daten weit hinausgehen. Nehmen wir z. B. einen Bissen Nahrung in den Mund, registrieren wir nicht, welche Bestandteile er genau enthält. Wir orientieren uns ohne Nachdenken: Ist es süß oder eher salzig? Womöglich bitter, gar verdorben? Empfinde ich Lust oder Ekel? Wir entscheiden impulsiv, was uns bekömmlich ist und was nicht. Schon Kleinkinder erkunden ihre Umgebung intuitiv mit dem Mund. Der Geschmack ist das Organ der wohlunterschiedenen Wahrnehmung. Deshalb sprechen wir auch in übertragener Bedeutung vom Geschmack als einer Urteilskraft, die durch Empfindung und Gefühl bewertet – etwa in Fragen nach dem Schönen oder auch der moralischen Einstellung“. Sie macht eine Pause, lehnt sich zurück.
Ja, richtig: Maschinen verarbeiten Daten. In der Schnelligkeit, mit sie das tun, sind sie uns weit überlegen. Allerdings fehlt ihnen die moralische und ästhetische Instanz, die zu urteilen vermag, was gut, was schlecht, was richtig oder falsch ist. Der Mensch besitzt diese Anlage grundsätzlich. Doch sie ist an Bedingungen geknüpft, die nicht einfach künstlich nachgebaut werden können. Demnach wird Künstliche Intelligenz nie menschliches Urteilen ersetzen, selbst wenn sie lernfähig gemacht wird.
Die Philosophin ergänzt: „Ihr fehlt Sinnlichkeit. Das ist etwas Elementares, etwas, das uns Menschen ausmacht: »der schmeckende Intellekt«. Bereits im klassischen Altertum wusste man um den Zusammenhang zwischen Schmecken und Wissen. Er drückt sich aus im lateinischen Wort für »Weisheit«, sapienta, das von sapio, »ich schmecke« hergeleitet ist. Der verständige ist also immer schon der »schmeckende« Mensch, der homo sapiens. Der weisheitsliebende Mensch hat demnach sein Wissen durch praktische Daseinsorientierung angereichert. Er hat das Leben »geschmeckt« und kann beurteilen, was zuträglich ist.“
Zwar liegt im Nach-Denken immer auch die Möglichkeit zu irren. Im besten Fall hilft das Philosophieren jedoch, sich in Zeiten der Verunsicherung im Denken zu orientieren. Deshalb setzt sich Astrid von der Lühe sehr dafür ein, das Fach an Schleswig-Holsteins Schulen stärker in den Fokus zu rücken. Zwar sieht das Schulgesetz Philosophieunterricht ab der Grundschule vor. Doch allzu oft wird er nicht angeboten oder es fehlt an Fachlehrkräften. Unter den Studierenden, berichtet sie, sei die Nachfrage allerdings zuletzt sprunghaft angestiegen. Immer mehr AbsolventInnen des Master of Education Philosophie verlassen die Kieler Universität.
Sie selbst hat Philosophie und Germanistik auf Lehramt studiert und danach promoviert. Dadurch erhielt sie ein Angebot zur Mitarbeit am Historischen Wörterbuch der Philosophie, eine Tätigkeit, über die sie mit dem Mitherausgeber Prof. Dr. Ralf Konersmann in Kontakt kam. Der holte sie nach Kiel. Heute lehrt und forscht sie als Akademische Oberrätin.
Durch ihre Promotion zur Theorie des ästhetischen Geschmacks im Zeitalter der Aufklärung stieß Astrid von der Lühe auf ein Thema, das aktuell in aller Munde ist: Ernährung, Kochen, Essen. „Mit etwas scheinbar so Banalem wie dem Essen haben sich die Philosophen lange nicht beschäftigt“, sagt sie und holt aus: „Dabei ist uns die Parallele zwischen Essen und Wissen, Ernähren und Erkennen schon alltagssprachlich vertraut: Wir sprechen etwa von »Wissensdurst«, »Erkenntnishunger« oder »unausgegorenen Gedanken«. Das Schmecken hat in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Bedeutung. Beim Hören, Sehen oder Fühlen kann ich Distanz halten zu den Dingen. Habe ich etwas auf der Zunge, ist es bereits in mir. Schmecken ist immer auch ein Auskosten, in dem ich mir meiner persönlichen Vorlieben bewusst werde. Und je geübter der Geschmack, desto größer unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und zum Genuss überhaupt“. Darf ich denn meinem natürlichen Geschmack trauen? Unsere Nahrungsmittel werden heute vielfältig manipuliert durch künstliche Beimischungen oder genetische Veränderungen. Die Dozentin nickt: „Solche Praktiken sind ein Problem, sie führen dazu, dass wir uns stärker über die Inhaltsstoffe informieren und auf die Angaben verlassen müssen.“ Sie wendet aber ein: „Die Nahrungsaufnahme ist eine elementare Angelegenheit des Lebens und der Wirklichkeit. Sie fordert von der Auswahl der Zutaten über die Zubereitung der Speisen bis zur Sorgfalt beim Anrichten alle unsere Sinne. Und nicht zuletzt die gesellige Mahlzeit ist dazu da, uns gemeinschaftlich Genuss zu verschaffen und uns dabei zu helfen, uns buchstäblich zu be-sinnen. Wichtig ist, achtsam zu sein, sich Zeit zu nehmen. Dann kann, wie beim guten Wein, die Kultur des Schmeckens durchaus auch der Bildung unseres Urteilsvermögens dienen.“